Wie bitte? Wer nicht mehr richtig hört, hat wahrscheinlich zu viel Schall auf die Ohren bekommen. Ob laute Maschinen oder laute Musik – beides schädigt auf Dauer das Gehör.
Schwerhörig? Ich doch nicht. Jugendliche sind mitunter sorglos. Discos, Konzerte, voll aufgedrehte Anlage – laute Musik finden viele normal. Fünf bis sechs Stunden verbringen 16- bis 24jährige pro Woche in der Disco. Das allein kann schon bedenklich sein. Wenn sie außerdem noch täglich Musik über den MP3-Player bei hoher Lautstärke hören, als Kind schon gerne mit Knallfröschen gespielt haben, dann sind sie Kandidaten für einen Hörschaden.
Freizeitlärm ist die neue Plage, die Ohren-Ärzte und Umweltbehörden im Visier haben. Bereits in den neunziger Jahren haben Untersuchungen an jungen Wehrpflichtigen bedenkliche Befunde gezeigt: Etwa ein Viertel der 18- bis 24jährigen Männer konnte hohe Töne nicht mehr hören. Da diese Männer bis dato nicht gearbeitet hatten, fiel der Verdacht auf Discos. Dort wurden Lautstärken bis zu 110 Dezibel gemessen. Da reicht ein Discobesuch pro Woche, um das Gehör langfristig zu verschlechtern.
Lärm schadet dem Gehör. Das Risiko wächst, je lauter es ist und je länger der Lärm andauert. Als kritische Grenze gilt ein Schalldruckpegel von 85 Dezibel. Wer bei dieser Lautstärke täglich acht Stunden an Maschinen arbeitet, läuft Gefahr, langfristig sein Gehör zu schädigen. Ein Schallpegel von 95 Dezibel ist schon nach 4 Stunden pro Woche gefährlich. Denn der Lärm schädigt die empfindlichen Haarsinneszellen, vor allem die äußeren Zellen, die den Schall verstärken. Bei Dauerlärm ist dieser Prozess schleichend. Er beginnt am Eingang der Hörschnecke, so dass als erstes die hohen Frequenzen verschwinden. Dieser Hörverlust lässt sich nicht heilen.
Etwa zwölf Millionen Menschen in Deutschland sind schwerhörig, weil ihr Innenohr den Schall nicht mehr richtig verarbeitet. Die hohe Zahl lässt sich zum Teil erklären: Die Bevölkerung hierzulande wird immer älter. Und Altersschwerhörigkeit gilt als normal. Etwa ab dem fünfzigsten Lebensjahr nimmt das Hörvermögen langsam ab. Eine Ursache sind lärmbedingte Schäden der Haarsinneszellen, die sich im Laufe des Lebens summieren. Gleichzeitig altern die Nervenzellen, die den Nervenimpuls vom Innenohr ins Gehirn leiten.
Aufhorchen lassen dagegen die jüngsten Befunde bei Kindern: Jedes achte Kind im Alter von acht bis vierzehn Jahren hört hohe Töne erst, wenn man sie 20 Dezibel lauter stellt. Das ergab der Kinder-Umweltsurvey, den das Umweltbundesamt (UBA) zwischen 2003 bis 2006 durchgeführt hat. Diesen messbaren Hörverlust merken die Kinder im Alltag noch nicht. „Er ist jedoch ein Hinweis darauf, dass Freizeitlärm eine Rolle gespielt haben kann“, sagt UBA-Lärmexperte Wolfgang Babisch. Denn auffällig ist, dass Jungen schlechter hören als Mädchen. Kleine Jungs spielen häufiger mit Spielzeugpistolen, Knackfiguren oder Knallfröschen. Solche Spielzeuge erzeugen Impulslärm, der besonders tückisch ist. Sie bringen es auf Schalldruckspitzen von bis zu 130 Dezibel, die wegen ihrer Kürze als ungefährlich wahrgenommen werden. Sie sind es mitnichten, warnt Wolfgang Babisch: „Man kann sich mit einer aufgeblasenen Tüte, die man am Ohr knallen lässt, einen Hörschaden zuziehen.“
Die meisten Kinder berichten, dass sie regelmäßig Musik über Kopfhörer hören. 11,4 Prozent der Kinder hörten danach vorübergehend Geräusche im Ohr. Ob die MP3-Player auch zu dem gemessenen Hörverlust beitragen, konnte die Untersuchung nicht klären. Das wundert Wolfgang Babisch nicht. Auch wenn diese Kinder stundenlang laute Musik hörten, sei ein Hörschaden erst nach einigen Jahren zu erwarten. Bei älteren Jugendlichen hingegen - man hat das bei Bundeswehr-Rekruten untersucht - war der Anteil mit entsprechenden Hörschäden doppelt so hoch, was mit der längeren Lebenszeitbelastung in Verbindung steht. Knallkörper in der Kindheit, MP3-Player und Diskotheken im Jugendalter und schließlich ein lauter Arbeitsplatz – gefährlich wird es, wenn der Lärm nicht mehr aufhört. Denn die Schäden im Ohr summieren sich.
Wer täglich eine Stunde bei voller Lautstärke Musik aus dem MP3-Player hört, riskiert einen dauerhaften Hörverlust – mit oder ohne Tinnitus. Schätzungsweise 5 bis 10 Prozent der Nutzer von MP3-Playern sind gefährdet. Das sind europaweit 10 Millionen Menschen. Zu diesem Ergebnis kommt der wissenschaftliche Ausschuss der Europäischen Union, der sich mit neu auftretenden Gesundheitsrisiken beschäftigt. Die Experten werteten zahlreiche Studien aus und vermuten, dass durchschnittliche Nutzer unter der Gefährdungsgrenze bleiben. Sie wiesen aber auch auf Datenlücken hin: Bisher ist kaum bekannt, wie lange junge Leute den MP3-Player nutzen und wie laut sie ihn stellen. Es fehlen auch Langzeitstudien, um die Folgen der MP3-Player für das Gehör bewerten zu können. Diese Lücke will das Bayerische Umwelt- und Gesundheitsministerium nun mit der Ohrkan-Studie schießen.
Hörst Du noch oder pfeift es schon? Neuntklässler in Regensburg finden diese Frage inzwischen nicht mehr blöd. Sie kennen sie vom Logo, das für die Ohrkan-Studie wirbt. Bis Sommer 2011 lassen 2000 Jugendliche im Universitätsklinikum Regensburg ihr Gehör testen. Eine Audiometristin prüft, ob ihr Trommelfell beweglich genug ist, um den Schall zu übertragen. Sie spielt ihnen leise Töne von tief bis hoch vor und testet, welche Frequenzen sie hören können. Zuvor haben die 14-15jährigen bereits in einem Fragebogen angekreuzt, ob sie MP3-Player hören, wie laut sie ihre Musik stellen, ob sie oft in der Disco sind oder Videogames spielen. Am Ende hoffen die Forscher, mehr über erste Hörschäden und den Musikkonsum der Jugendlichen zu wissen und Risikogruppen genauer zu kennen.
Das könnte weitere Argumente gegenüber den Herstellern von MP3-Playern liefern. Noch dürfen die Geräte beliebig laut sein und die Nutzer können sich problemlos Schallpegel bis zu 115 Dezibel auf Ohr stöpseln, was einer sehr lauten Diskothek entspricht. Das will die EU-Kommission ändern. Künftig sollen alle MP3-Player und musikfähige Mobiltelefone auf die unbedenkliche Lautstärke von 80 Dezibel voreingestellt sein, die etwa Verkehrslärm oder dem Lärm eines schreienden Menschen entspricht. Wer seine Musik lauter hören will, muss die Einstellung verändern und wird auf dem Display gewarnt, dass er sich dabei Hörschäden einhandeln kann.
Derweil bemühen sich Deutschlands Diskothekenbesitzer noch, eine gesetzliche Schallpegelbegrenzung zu verhindern - mit einem DJ-Führerschein und dem Gütesiegel „Freiwillig kontrollierte Lautstärke“. Die Diskjockeys lernen, was laute Musik im Gehör anrichtet und wie sie die Musik auf einem akzeptablen Maximalpegel von unter 100 Dezibel an der lautesten Stelle halten. Diesen Wert haben die Gesundheitsminister der Länder beschlossen. Die Politiker auch, dass optische Anzeigen die Discobesucher vor zu hohen Schallpegeln warnen und Automaten mit Ohrstöpseln bereitstehen.
Für die Disc-Jockeys und das Barpersonal gilt ohnehin der Arbeitschutz. Der ist im März 2007 verschärft worden. Demnach müssen Arbeitgeber ihre Beschäftigten schon bei 80 Dezibel über die Lärmgefahren informieren und ihnen Ohrstöpsel zum Schutz anbieten. Ab durchschnittlichen Schalldruckpegeln von 85 Dezibel sind sie verpflichtet, Pläne zur Lärmminderung aufstellen, und sich darum kümmern, dass der Lärm weniger wird. Das kann heißen, dass Maschinen technisch verbessert oder gegen lärmärmere ausgetauscht werden, laute Maschinen in getrennten Räumen arbeiten oder schallschluckende Wände und Decken eingebaut werden. Bis technische Lösungen greifen, müssen sie dafür sorgen, dass Beschäftigte so kurz wie möglich im Lärm arbeiten und Lärmpausen einhalten. Und natürlich nicht nur Gehörschutz verteilen, sondern auch kontrollieren, dass er getragen wird.
Prof. Hans Peter Zenner ist Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde in Tübingen.
ÖKO-TEST: Kommen zu Ihnen junge Leute mit Lärmschaden?
Zenner: Ja, typischerweise um vier Uhr nachts aus der Diskothek. Die hören entweder zum Beispiel ein schreckliches Rauschen oder Pfeifen oder sie hören eben schlechter. Oder beides. Andere kommen in der Silvesternacht. Zu Silvesterböllern kennen wir relativ genaue Zahlen: In einer Nacht erleiden bundesweit etwa 8000 junge Menschen einen erheblichen Lärmschaden auf beiden Ohren. In der Hälfte der Fälle bleibt der Schaden dauerhaft bestehen.
ÖKO-TEST: Was passiert bei extremen Lautstärken im Ohr?
Zenner: Die Sinneshärchen im Innenohr knicken um. Als erstes werden sie weich, dann können sie sich wahrscheinlich noch erholen. Wenn sie richtig umgeknickt sind, dann können sie sich nicht mehr erholen. Das ist etwa so, wie wenn ein Sturm durch einen Wald fegt. Da stehen die Bäume auch alle schräg. Und wenn der Sturm vorbei ist, dann sind ein paar umgeknickt.
ÖKO-TEST: Jugendliche berichten auch, dass sie gelegentlich ein Pfeifen hören. Ist das ein Vorbote für Tinnitus?
Zenner: Nein, das ist schon ein Schaden. Das ist ein Tinnitus. Die Hörsinneszellen, die umgeknickt sind, geben die Umweltsignale nicht mehr weiter. Stattdessen produzieren sie ein eigenes Signal, ein Unsinnsignal. Das ist das Rauschen und Pfeifen, das man hört. Das ist zu vergleichen mit dem Rauschen oder Knacken einer schlechten Telefonleitung. In der Hälfte der Fälle bleibt der Tinnitus, in der anderen Hälfte erholt sich das Ohr wieder. Aber, wenn man einen Tinnitus hatte, ist das Risiko größer, beim nächsten, übernächsten oder beim zehnten Mal einen Dauerschaden zu erleiden.
ÖKO-TEST: Nehmen die Hörschäden zu?
Zenner: Aktuell nicht mehr. Aber wir gehen davon aus, dass sich etwa 10 Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs durch Diskotheken, Knaller und Musikabspielgeräte einen Hörschaden zuziehen, der mit 23 Jahren in der Sprachhörprüfung deutlich messbar ist. Deren Fähigkeit, Sprache zu verstehen, ist deutlich herabgesetzt.
ÖKO-TEST: Sind die reif für ein Hörgerät?
Zenner: Ganz so schlimm ist es erfreulicherweise noch nicht. Vom Walkman zum Hörgerät - das ist eine Ausnahme.
ÖKO-TEST: Was bringen Ruhepausen fürs Ohr?
Zenner: Wenn das Ohr sich mehrere Stunden erholt, kann das helfen. Wir wissen aus der Arbeitsmedizin, dass 16 Stunden Ruhe nach einer lauten Schicht das Risiko senken, einen Dauerschaden zu erleiden. Wer nach der Arbeit in die Diskothek geht, setzt sich einem viel größeren Risiko aus.
ÖKO-TEST: Woran merkt man, dass es zu laut ist?
Zenner: Wenn man sich mit anderen Menschen nicht mehr unterhalten kann, dann ist es zu laut. Das ist ein Alarmsignal.
Gerlinde Geffers